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Ist Wahrheit subjektiv oder objektiv? Perspektiven aus der Wissenschaft

Laut der Stanford Encyclopedia of Philosophy, einem Nachschlagewerk zu philosophischen Themen, gilt als wissenschaftliche Wahrheit, was objektiv, durch

By lchamberlain

18 Aug. 2020

7 min

Laut derStanford Encyclopedia of Philosophy, einem Nachschlagewerk zu philosophischen Themen, gilt als wissenschaftliche Wahrheit, was objektiv, durch Nachweise belegt und (im Idealfall) allgemein akzeptiert ist. Subjektive Wahrheiten hängen hingegen von persönlichen Meinungen und Perspektiven ab. Genau hier liegt die Herausforderung, insbesondere für Marken, die steuern möchten, welche Informationen online über ihr Unternehmen verfügbar sind.

Nehmen wir einmal an, Sie ziehen sich beim Wandern eine Knieverletzung zu. In der Notaufnahme werden Sie gebeten, Ihre Schmerzen auf einer Skala von 1 (erträglich) bis 10 (unerträglich) einzustufen.

Wie Sie Ihre Schmerzen einordnen, hängt ausschließlich von Ihren bisherigen Erfahrungen und Ihrem eigenen Bezugsrahmen ab. Haben Sie sich bisher noch nie auch nur den Knöchel leicht verstaucht, empfinden Sie Ihre Schmerzen jetzt vielleicht als unerträglich, also als 10 auf der Skala. Haben Sie aber etwa ein Kind ohne jegliche Schmerzmittel zur Welt gebracht oder sich schon einmal viel schwerer verletzt, bewerten Sie Ihre Schmerzen vermutlich als weniger stark. Ganz gleich, wie Sie empfinden: Ihre Aussage wird der Wahrheit entsprechen, denn Schmerz und Leiden sind persönliche und subjektive Angelegenheiten.

Woran erkennen wir also, dass es sich um die objektive Wahrheit handelt oder eben nicht? Und wie kann uns die Wissenschaft weiterhelfen?

Zwei Menschen können eine Situation völlig unterschiedlich wahrnehmen – und trotzdem beide recht haben.

Mal angenommen, Sie treffen Ihre Kollegin bei einer Konferenz und machen ihr ein Kompliment für ihre orangefarbene Jacke. „Orange?", fragt sie verwirrt. „Die Jacke ist doch rot!"

Und doch nimmt keiner von Ihnen beiden die Farbe der Jacke falsch wahr. Überraschenderweise werden Farben nämlich subjektiv wahrgenommen – so jedenfalls die vorherrschende Auffassung unter Forschern. Zwei Wissenschaftler, der eine am Massachusetts Institute of Technology, der andere an der University of Illinois in Chicago, haben den sogenannten„Farbrealismus" (color realism) erforscht und kamen zu dem Schluss, dass physische Objekte Farben besitzen. Sie stellen allerdings klar, dass nur wenige ihrer Kollegen diese Ansicht teilen. Die meisten Experten vertreten eine andere Meinung: „Dass nichts Farbe besitzt, jedenfalls keine physischen Objekte im Wahrnehmungsraum des Betrachters" – also etwa Tomaten oder die Jacke einer Kollegin. Was Sie als orange wahrnehmen, kann für jemand anderen rot und für eine weitere Person gar pfirsichfarben aussehen. Alles hängt davon ab, was Ihre Augen Ihnen vermitteln und wie Sie das Gesehene individuell interpretieren.

Die „offizielle" Farbe der Jacke können wir als objektive Tatsache betrachten, auch wenn die Farben, die sie zu haben scheint,auf subjektivem Empfinden beruhen. Natürlich wäre das Wissen um die objektive Farbe dieser Jacke von starkem Interesse für den Hersteller des Kleidungsstücks, da potenzielle Kunden erfolgreich danach suchen können sollten. Das Unternehmen möchte mit Sicherheit auch wissen, mit welchen unterschiedlichen Farbbezeichnungen Kunden nach dieser Jacke suchen und welche Farbtöne sie bei der Suche eingeben. Wer online keinen Anspruch auf diese Informationen erhebt, wird womöglich um seine Kunden gebracht. Wenn es um objektive Tatsachen wie die offizielle Farbe einer Jacke geht, welche so individuell wahrgenommen werden können, muss das betreffende Unternehmen unbedingt die Suchanfragen im Zusammenhang mit dem Artikel berücksichtigen und auswerten.

„Das Beste" ist subjektiv

Debatten zur Wissenschaftstheorie drehen sich oftmals um die Objektivität wissenschaftlicher Beweisführung. Bei individuellen und gesellschaftlichen Argumentationen ist das weniger der Fall. So gibt es scheinbar endlos viele Restaurants und Cafés, die ihren Kaffee als den „besten der Welt" anpreisen, und doch steht außer Frage, dass diese Einschätzung komplett subjektiv ist. Coffee Fellows? Starbucks? Tchibo oder das nette Café um die Ecke? Alles eine Frage des persönlichen Geschmacks.

Traditionell verkaufen Unternehmen und Marken einfach ihre eigene Wahrheit, die oft mit Aussagen wie „Wer unser Produkt kauft, wird glücklich." zusammengefasst werden kann. Ob sich das für den Kunden bewahrheitet, steht auf einem anderen Blatt. Heute wirkt sich das genannte Konzept jedoch stark auf die Onlinesuche aus, da sich Kunden inzwischen immer mehr auf die Fähigkeiten zur maschinellen Sprachverarbeitung (NLP) von Alexa, Siri und weiteren KI-gestützten Angeboten verlassen. Dank dieser Funktionen können die Nutzer Fragen so stellen, als unterhielten sie sich mit einem Freund oder einer Freundin auf dem Sofa (oder aktuell eher über den Gartenzaun hinweg oder per FaceTime über den Bildschirm). Am Ende der Interaktion steht dann eine relevante Antwort.

Zwar stellen Kunden die verschiedensten Arten von subjektiven Fragen, doch es gibtauch Fragen, die sich konkret auf Marken beziehen und nach objektiven, faktenbasierten Antworten verlangen. Auf eine Suchanfrage mit dem Inhalt „Bester Kaffee der Stadt" erhalten Sie eine subjektive Antwort, die sich aus den persönlichen Bewertungen und Rezensionen anderer Kunden zusammensetzt. Dann gibt es aber auch Anfragen wie „Jetzt geöffnetes Café". Als Antwort werden dann Cafés angezeigt, die objektiv betrachtetzu dem Zeitpunkt geöffnet sind, wenn der Suchende seine Anfrage eingibt. Genau diese Antworten müssen sich Marken zu eigen machen. Denn Unternehmen können nicht direkt steuern, ob ihre Kunden sie als „die Besten" wahrnehmen, doch sie können dafür sorgen, dass ihr Standort, ihre Geschäftszeiten, ihre Angebote und sonstige faktenbasierte Informationen zur Verfügung stehen.

Daten sind vollkommen – oder etwa nicht?

Wie also passen Unternehmen ihre Suchmaschinenoptimierung an die unzähligen „Wahrheiten" über ihr Produkt, ihre Marke oder ihren Ruf an? Höchstwahrscheinlich setzen sie dabei auf Daten.

Der Kommunikationstechnologe und Autor Kalev Leetaru befasst sich in einem 2019 bei Forbes erschienenen Artikel mit dem Gegensatz zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit beim Thema Daten. Er argumentiert, dass Wissenschaftler versuchen, sich mithilfe von Datenerhebung, Mathematik und der Untersuchung von menschlicher Kreativität die Welt zu erschließen. Dahingegen sei die Öffentlichkeit weniger am Konzept „Wahrheit" interessiert, so Leetaru.

Er schreibt: „Von Data Science über Faktenchecks dreht sich heutzutage alles um das Streben nach objektiver und unwiderlegbarer Wahrheit. Von menschlichen ‚Faktencheckern', die verbissen nach Quellen und Belegen suchen, um Falschaussagen in den sozialen Medien zu bekämpfen, bis hin zu Datenwissenschaftlern, die aus Petabytes von Daten eine einzelne Antwort extrahieren – unsere moderne Welt basiert auf der Annahme, dass die ‚Wahrheit' durch ausreichende Datenanalyse zu finden sei. Doch jetzt, wo das Feld der Data Science menschlichen Bewertungen zunehmend wieder mehr Bedeutung beimisst als der ‚Reinheit des Algorithmus' und das digitale Ökosystem nach einem experimentellen Fokus auf Objektivität den Fokus wieder auf Subjektivität lenkt, stellt sich die Frage, ob so etwas wie objektive Wahrheit überhaupt existiert."

Leetaru schlussfolgert, dass jeder Datensatz so gefiltert werden kann, dass eine beliebige Antwort erreicht wird. Das bedeutet, es gibt keine Wahrheit, sondern nur eine Entscheidung basierend auf den vorliegenden Daten.

Selbst die Wahrheit ist subjektiv

Wissenschaftsautor Josh Hrala führt in seinem 2016 in der Zeitschrift Science Alert erschienenen Artikel „Here's Why The Truth Really Is Subjective" (Deshalb ist die Wahrheit tatsächlich subjektiv) einige Beispiele für die Subjektivität der Wahrheit an. „Tatsachen, die einem allgemeingültigen Verständnis von Vernunft entsprechen, entlasten unser kognitives System stark," so Hrala. „Die Aussage ‚Feuer ist heiß' muss unser Gehirn nicht unter großem Energieaufwand verarbeiten, da allgemein bekannt ist, dass Feuer heiß ist. Wenn Sie allerdings noch nie offenes Feuer berührt haben (und wir empfehlen ausdrücklich, dies nicht zu tun), wäre es dann nicht denkbar, dass Sie der allgegenwärtigen Bekräftigung, Feuer sei heiß, einfach Glauben schenken? Kurz gesagt: Ja."

Hrala führt weiter aus, dass unser kognitiver Apparat umso mehr entlastet wird und wir umso eher einer Aussage Glauben schenken – ob diese nun wahr ist oder nicht –, je vertrauter uns ein Reiz vorkommt. Er schreibt etwa: „Wer die Wortfolge ‚Die Körpertemperatur von Hühnern …' immer und immer wieder hört, hält die Aussage ‚Die Körpertemperatur von Hühnern liegt bei 34 Grad Celsius' mit höherer Wahrscheinlichkeit für wahr." Tatsächlich ist dem jedoch nicht so, die Körpertemperatur von Hühnern liegt bei etwa 41 Grad Celsius.

Hrala nennt Werbung als Paradebeispiel für die Ausnutzung der Wirkweise von „cognitive ease" (etwa „kognitive Entlastung"): Marketer schalten sich wiederholende Werbeanzeigen auf sämtlichen Plattformen, die Zielgruppe sieht diese oft genug, empfindet diese als vertraut und kauft letzten Endes das beworbene Produkt. (Ob ein Käufer das besagte Produkt tatsächlich braucht, ist wiederum völlig subjektiv.)

Die Wahrheit als Trend

Wir alle vertreten unsere ganz persönliche Wahrheit. Was ich als orange wahrnehme, sehen Sie vielleicht als pfirsichfarben. Was ich erträglich finde, verursacht Ihnen womöglich unerträgliche Schmerzen. Millionen von Internetnutzern halten mit aller Kraft an ihrer subjektiven Wahrheit fest. Die Vorstellung von Unwahrheit in der digitalen Sphäre verliert an Bedeutung, wenn vieles, das wir als „Wahrheit" bezeichnen, von unserem subjektiven Weltbild abhängt.

Unsere Vorgehensweise kann objektiver werden, wenn wir uns verhalten wie Wissenschaftler bei der Durchführung eines Experiments. So tun Marken etwa gut daran, die Fragen nachzuverfolgen, die Kunden online stellen, und nachzuprüfen, welche Inhalte sie anklicken sowie zu ermitteln, was ihre Wahrnehmung beeinflusst. So ist es möglich, bestimmte Verhaltensweisen besser nachzuvollziehen. Bei diesem Prozess erfahren Sie vielleicht mehr Neues über Ihr Produkt und Unternehmen, als Sie sich ausmalen, und Sie können ihre Entscheidungen an den vielfältigen subjektiven Gegebenheiten in Ihrer Realität ausrichten.

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